Jahreslosung im Verlag am Birnbach - Motiv von Stefanie Bahlinger, Mössingen

Jahreslosung im Verlag am Birnbach – Motiv von Stefanie Bahlinger, Mössingen

Erste Gedanken zum Leitwort 2106 der Pfarrei St. Johannes Ap.

Nehmt einander an,
wie auch Christus euch angenommen hat,
zur Ehre Gottes.
(Röm 15,7)

 

Situation in Rom zur Zeit der Abfassung des Briefes

Um dem tieferen Sinn des Leitworts näher zu kommen, geht ein erster Blick in die Gemeinde von Rom im Jahr 56 n.Chr., welcher Paulus von Korinth aus schreibt. Dort kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den Gründern (den sog. Judenchristen) einerseits und Gemeindemitgliedern, die ohne vorherige Zugehörigkeit zum Judentum den christlichen Glauben angenommen hatten (den sog. Heidenchristen) andererseits. Paulus weist auf die alle Gruppen verbindende Heilige Schrift hin und erinnert aber daran, dass die Gemeinde daraus lebt, dass Christus alle angenommen hat und für alle gestorben und auferstanden ist.

Annahme durch Christus, zur Ehre Gottes

Wie lässt es sich begreifen, dass Christus alle – also auch jeden einzelnen von uns – angenommen hat? Eine erste Antwort könnte sein: Bei Jesus sind Wort und Tat eine untrennbare Einheit, zu erkennen an Krankenheilungen, Freundschaft mit Sündern, Versöhnung von Todfeinden. Es geht um das Heilwerden des Leibes und der Gemeinschaft. Deshalb hat er seine Jünger auch mit diesem Doppelauftrag ausgesandt: Verkündigung des Gottesreiches und Krankenheilung. Hinzu kommt sein Gottesverhältnis: Er lebt den Glauben ganz unmittelbar und weckt ihn deshalb auch in anderen.
Durch Jesu Annahme des einzelnen Menschen in Not, seiner überzeugenden Menschlichkeit und Ausstrahlung, der Art, wie er Menschen wahrnimmt und ansieht, entsteht Glaubensvertrauen. Es ist Zutrauen, das die Möglichkeit für Gottes Wirken öffnet. Dieses, durch Jesus ermöglichte Glauben, befreit von aller Enge und Gefangenheit in sich selbst. Es macht frei vom Zwang, dem Leben aus eigener Vollmacht Sinn geben zu müssen: durch Besitzstreben, durch Geltungsstreben, durch Gesetzesreligiosität. Das Angenommensein durch Jesus Christus öffnet den Weg zur Selbstannahme und der Annahme des Anderen.

Die Selbstannahme

Die „Annahme seiner selbst“ ist nicht immer ganz einfach, zuweilen ist uns dieser Gedanke ganz fremd. Ich will dann ganz anders sein als ich bin, ich fühle mich gefangen in mir selbst, ich möchte mehr als ich vermag. Mich selber annehmen heißt aber, damit einverstanden zu sein, der zu sein, der ich bin“ (Romano Guardini). Wir glauben, dass wir alle Geschöpfe des guten Gottes sind, dass jeder von uns einzigartig ist und dass Gott uns in Liebe geschaffen hat. Er sieht für jeden von uns ein Leben in Fülle vor, so unterschiedlich es auch sein mag.
Wenn wir darauf vertrauen, dass Gott uns nicht nur auf diese Erde gesetzt hat, sondern auch unseren Lebensweg begleitet, gibt er uns auch die Fähigkeit zur Annahme unser Selbst. Der Satz aus dem Glaubensbekenntnis „ich glaube an den Heiligen Geist“ bekommt hier eine konkrete Bedeutung für unser Leben. Der Geist kann bewirken, dass ich mir inne werde, dass ich Frieden mit mir finde.

20151129_Jahreslosung_Kirche

Die Annahme des Anderen

Paulus hat den Brief an die Römer unter dem Eindruck geschrieben, dass in der christlichen Gemeinde Unfriede herrscht. Und so, wie die Annahme eine gegenseitige Beziehung ist, so ist es auch die Feindschaft: Für eine Feindschaft wie für eine Freundschaft benötigt es den beiderseitigen Willen (Thomaš Halík). Wie aber mit einer Situation, in der die Annahme des Anderen ganz und gar unmöglich scheint, umgehen? Die Gefühle von Wut, Ohnmacht und Verletztsein, dürfen wir zulassen, aber nur so, dass wir lernen, sie von außen zu betrachten. „Ich identifiziere mich nicht mit ihnen, ich bin nicht Zorn oder Feindschaft“ (Thomaš Halík).
Papst Benedikt XVI. formuliert es so: Die Annahme des Anderen meint, ihn „nicht mehr bloß mit meinen Augen und Gefühlen anzusehen, sondern aus der Perspektive Jesu Christi heraus … Ich sehe durch das Äußere hindurch sein inneres Warten auf einen Gestus der Liebe – auf Zuwendung … Ich sehe mit Christus und kann dem anderen mehr geben als die äußerlich notwendigen Dinge: den Blick der Liebe, die er braucht“. Eine solche Annahme des Anderen ist ein Geschenk, sie wandelt gerade in Zeiten der Not und der Bedrängnis dessen Leben und stiftet Hoffnung und Zuversicht, wie ein Licht in der Dunkelheit.
„Wenn die Berührung mit Gott in meinem Leben ganz fehlt, dann kann ich im anderen immer nur den anderen sehen und kann das göttliche Bild ihn ihm nicht erkennen. Wenn ich aber die Zuwendung zum Nächsten aus meinem Leben ganz weglasse und nur ‚fromm‘ sein möchte, nur meine ‚religiösen Pflichten tun, dann verdorrt auch die Gottesbeziehung. Dann ist sie nur noch ‚korrekt‘, aber ohne Liebe“ (beides: Deus Caritas est 18).
Hier lässt sich noch einmal an Paulus anknüpfen: Die Gemeinde litt wohl an dieser Form der Auszehrung, die dazu führte, dass sie ihrem Grundauftrag, das Reich Gottes zu verkünden, nicht mehr in der rechten Weise nachkommen konnte. Nicht der Unfrieden an sich stellte das größte Problem dar, sondern das Unvermögen, auf den Anderen zuzugehen; das Zurückweisen der ausgestreckten Hand; das Fehlen es liebenden Blicks, der hilft, Feindschaft zu überwinden.
„Nur meine Bereitschaft, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen, macht mich auch einfühlsam Gott gegenüber. Nur der Dienst am Nächsten öffnet mir die Augen dafür, was Gott für mich tut und wie er mich liebt“ (Benedikt XVI., Deus Caritas est 18).

Dr. Barbara Wieland

Das Lied zum Motto: (Text & Musik: Friedemann Wutzler © WUTZLER VERLAG)